DAS STRAPAZIERTE SCHIFF

Die »Germanic« war ein britisches Schiff, das 76 Jahre lang im Dienst war und einiges an Schwierigkeiten zu überstehen hatte.

1876 schuf der englische Maler Isaac Joseph Witham ein Gemälde, Öl auf Leinwand, etwas über einen Meter hoch und fast zwei Meter in der Breite. Im April 1998 wurde es im Londoner Kunsthandel bei Sotheby’s angeboten. Es ist nicht bekannt, wer das Bild erworben hat. Es ist anzunehmen, dass es ein Mensch gewesen sein könnte, den ein von den Windverhältnissen gepeitschtes Schiff beeindrucken konnte. Denn auf dem Bild stürzen die Wellen gewaltig übereinander, verschlingen sich ineinander, schieben sich immer neu und im Überschlag mit voller Wucht hoch hinauf im bewegten Meer, klatschen herunter und steigen wasserwühlend sofort wieder herauf. Die Wolken rasen in riesigen grauweißen Fetzen am Himmel entlang. Ein Schiff zieht darunter in einem dramatischen Sturm seine Bahn, aber souverän, geführt vom Kapitän auf der Brücke mit seinen Offizieren und Matrosen, getragen von vier Masten mit extrem aufgeblähten Segeln. Auf dem höchsten Segel fetzt der Wind eine Flagge der weißen Sternlinie im roten Umfeld, die Flagge von White Star Line, die offenkundig standhält.

Foto: Sammlung JSA

Es ist die Germanic, ein Dampfer der Oceanic Steam Navigation Company, eben besser bekannt als White Star Line. Sie war ein Jahr zuvor, 1875, in Irland gebaut worden und gehörte dieser Reederei, einer der bekanntesten in der Welt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die White Star Line war 1845 von John Pilkington und Henry Wilson in Liverpool gegründet worden und führend im Passagier- und Frachtdienst zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Germanic war das Schwesternschiff der Britannic, beide waren Passagierschiffe. Für einige Zeit war die Britannic das größte Schiff der White Star Line, Werftchef Edward J. Harland hatte es eigens entworfen, um die Konkurrenz zu übertrumpfen. Die Gründer der kühnen Reederei, vor allem Wilson, trieben den Schiffsmarkt vor sich her mit immer neuen Plänen und entwickelten immer größere, sicherere und schnellere Schiffe. Das war der Geist des Jahrhunderts, der Zeit der Industrierevolution und der Dampfschiffe.

Die Germanic lief am 15. Juli 1874 bei Harland & Wolff in Belfast, der Hauptstadt von Nordirland, vom Stapel. Am 20. Mai 1875 ging sie auf ihre Jungfernfahrt von Liverpool aus nach New York. Im Sommer des Jahres holte sie mit einer Geschwindigkeit von 14,65 Knoten das Blaue Band der Atlantiküberquerung, im April 1876 konnte sie den Rekord sogar noch etwas steigern, zudem hatte sie mit einer Rekordfahrt in Ost-West-Richtung 15,76 Knoten geschafft. Die Briten jubelten.

Das Schiff war 142,64 Meter lang und 13,77 Meter breit, die Tonnage war mit 5008 BRT vermessen worden. Angetrieben wurde es mit Verbunddampfmaschinen, was in dieser Zeit am innovativsten war. Die Maschinenleistung erreichte 5000 PS (3677 kW), auf einen Propeller wirkend, die Höchstgeschwindigkeit 15 Knoten (26 km/h). Die Transportkapazitäten waren für diese Periode umfänglich: 220 Passagiere in der Ersten Klasse, 1500 in der Dritten Klasse.

1895 hielt man es bei White Star für angemessen, die Germanic umzubauen. Sie erhielt ein Extradeck und ihre Schornsteine wurden verlängert, dadurch konnte die Tonnage auf 5066 BRT erhöht werden. Das Schiff gehörte nun auch von der Gestaltung her zur Spitzenklasse.

Foto: Sammlung JSA

Am 13. Februar 1899 kam es zu einem dummen Unfall in New York, das Schiff wurde mit Kohle so überladen, dass es kenterte. Nach Bergung brachte man es in die Belfaster Werft zur Sanierung, aus der man es nach mehr als drei Monaten am 7. Juni 1899 wieder entließ. Allerdings gehörte es inzwischen nicht mehr zu den Schnellsten und Schicksten im Wettbewerb der Dampfer, die Konkurrenz war unbarmherzig. Im Oktober 1903 wurde es aufgelegt. Immerhin setzte man es 1904 für vier Charterreisen unter der Führung der American Line von Southampton nach New York ein.

1905 übernahm die Dominion Line in Liverpool die Germanic für ihren Liverpool-Montreal-Dienst vom 27. April des Jahres an. Das Schiff wurde in Ottawa umbenannt, die beiden Klassen an Bord löste man auf, was als sozial und modern galt. Auf dieser Linie war das Schiff bis 1909 ständig unterwegs.

Die Dominion Line konnte jedoch die Ottawa nicht halten, sie schickte das Schiff nach Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Die Überführung wurde am 15. März 1911 vollzogen. Die Konstantinopeler Denizbank DenizyollariIdaresi kaufte das Schiff, nun wurde es umbenannt in Gul Djemal. Ihr Dienstrevier war für vier Jahre lang ausschließlich das Schwarze Meer. Im Ersten Weltkrieg, in dem die Türkei die deutsche Seite unterstützte, wurde sie am 3. Mai 1915 von dem britischen U-Boot E 14 torpediert, sank daraufhin, konnte aber wieder gehoben werden.

Am 6. Oktober 1920 war es für die einst häufige New-York-Besucherin zum ersten Mal wieder möglich, dorthin zu fahren. Es begann der Liniendienst Konstantinopel-New York, das ging bis in den Herbst 1921.Danach wurde die Gul Djemal im November zeitweise aufgelegt, sie war längst schon nicht mehr die Jüngste. 1928 änderten die Türken ihren Namen in Gulcemal, danach war sie über Jahrzehnte nicht mehr präsent in der internationalen Schifffahrt, man ließ sie verrotten.

Erst am 16. November 1950 erreichte das Schiff, das einst als Germanic in Betrieb genommen wurde, das sizilianische Messina, wo die Abwrackarbeiten begannen. Germanic heißt im Englischen „keine Steigerung“, aber das Schiff hat viele Jahre mehr als andere Schiffe ihren Dienst getan und allerlei Strapazen überstanden. Nach 76 Jahren war es nun zu Ende.

Roland Mischke, maritimes Lektorat: Jürgen Saupe