Die sowjetische Baltic Shipping Company bot in den 70er-Jahren eine „besondere“ Fährverbindung zwischen London und dem damaligen Leningrad an, die gerne auch von britischen Touristen als eine Rundreise und Quasi-Kreuzfahrt angenommen wurde. Wie es hieß, war diese Verbindung als so genannte „Diplomaten-Linie“ für die Beförderung sowjetischer Persönlichkeiten in den Westen gedacht, um so Reisedevisen zu sparen, die bei den Reisen durch die vielen Staaten Europas erforderlich geworden wären. Zwischen London und Leningrad wurden regelmäßig die Häfen Le Havre, Kopenhagen, Stockholm und Helsinki angelaufen. Jürgen Saupe erkundete im August 1975 dieses spezielle Schiff.
Die Baltika war ein 136m langes und mit 7494 BRT vermessenes sowjetisches Passagierschiff, welches 1940 in den Niederlanden als Vyacheslav Molotov gebaut wurde. Angetrieben von 2 Dampfturbinen mit zusammen 12.800 PS konnten 15 Knoten erreicht werden. Sie gehörte zu einer 1938 bis 1940 hergestellten Baureihe von zwei Schiffen der Iosif Stalin-Klasse, die, so war es geplant, für den Linienverkehr im sowjetischen Fernen Osten bestellt, wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges jedoch nach Leningrad stationiert wurden.
Kurze Zeit nach Ablieferung bekam die Vyacheslav Molotov als „Truppentransporter“ die Bezeichnung VT-509. Am 11. August 1941, anlässlich der sowjetischen Evakuierung von Tallinn, wurde die VT-509 auf dem Wege von Tallinn nach Kronstadt, dem Marinehafen vor Leningrad, von einer Mine getroffen, konnte aber beschädigt ihren Weg fortsetzen. Während der Leningrader Blockade diente das Schiff zweckentfremdet als Lazarettschiff, Kraftwerk, Wäscherei für die Stadt und Armee sowie als Werkstatt und „Produktionshalle“ zur Fertigung von Raketen für die „Stalinorgel“.
Das Schiff überstand, wenn auch beschädigt, den Krieg, wurde notdürftig repariert, konnte aber wegen zahlreicher Mängel nicht auf der geplanten Strecke Leningrad – Liverpool – New York eingesetzt werden. Nach weiteren Reparaturen der Vyacheslav Molotov in Liverpool und Amsterdam entschied man sich, das Schiff im Schwarzen Meer einzusetzen. Hier verblieb es bis 1950, danach bis 1955 im Fernen Osten, wie es ursprünglich vor dem Bau geplant war. 1955 kehrte die Vyacheslav Molotov ins Schwarze Meer zurück, wurde allerdings nach dem Tod von Minister Molotov in Baltika umbenannt.
1960 machte die Baltika international Schlagzeilen, brachte sie doch den sowjetischen Staats- und Parteichef Nikita Sergejewitsch Chruschtschow und Todor Schiwkow (Bulgarien), János Kádár (Ungarn) und Gheorghe Gheorghiu-Dej (Rumänien) aus dem sowjetischen Militärhafen Pillau (Baltijsk) nach New York, wo Chruschtschow seine weltweit bekannte Rede (die mit dem Einsatz seines Schuhs) gehalten hatte.
In den Folgejahren pendelte die Baltika dann auf der so genannten Diplomatenlinie zwischen dem damaligen Leningrad und Tilbury vor den Toren Londons. 189 Besatzungsmitglieder betreuten bis zu 437 Fahrgäste. Die Reisekosten der Diplomaten sollten westliche Touristen mitfinanzieren, da die Rundreisen mehr oder weniger inoffiziell auch im so genannten kapitalistischen Ausland angeboten wurden. Aus behördlicher Sicht ging man allerdings nicht davon aus, dass sich auch deutsche Staatsbürger auf das Schiff „verirren“ könnten.
Der deutsche Veranstalter Transocean in Bremen war offizieller Agent der Baltic Shipping Company und bot diese Schiffsreisen kleingedruckt in einer Ecke seines Kreuzfahrtenprospektes an. Anfragen an den Bremer Agenten wurden über die Reederei in Leningrad direkt an den jeweiligen Hafenagenten in den Anlaufhäfen weiter geleitet. Gebuchte Passagiere erhielten ihre Reservierung mittels eines „Original-Reederei-Tickets“. In diesem war sowohl die Kabinennummer als auch ggf. ein reservierter Decksplatz für den Pkw eingetragen. Mit dem Schiffsticket in der Hand konnte man auch als Deutscher unbehelligt an Bord gehen, was zu der Zeit bei einem sowjetischen Schiff recht ungewöhnlich war. Mit dem Anbordgehen begann dann jedoch auf beiden Seiten das große Erwachen und Erschrecken.
Der Zahlmeister druckste und rückte nach kurzem Schweigen und Studieren der Reiseunterlagen mit der Information heraus, dass man sich wundere, dass überhaupt ein solches Ticket an einen deutschen Fahrgast ausgestellt worden war. Außerdem sei das Ganze nicht so einfach, denn man müsse erst in Moskau nachfragen, ob denn Westdeutsche überhaupt mit dem Staatsschiff fahren dürften. Als nächste Schwierigkeit erwies sich die Unterbringung eines ungeplanten Autos an Deck. Doch dieses Problem wurde mit Hilfe des bordeigenen Ladegeschirrs gelöst. Die Decksmannschaft staute die bereits an Bord genommenen Diplomatenautos in einer großen Aktion einfach um.
In den Einschiffungsunterlagen stand der Hinweis, dass an Bord mit jeder Währung bezahlt werden könne. Das galt aber offensichtlich nicht für die damalige D-Mark. Große Aufregung an Bord. Man weigerte sich, die Währung des Klassenfeindes überhaupt anzufassen.
Wiederum erwies sich der Zahlmeister als hilfreicher Engel. Er beruhigte zunächst die Gemüter seiner Untergebenen und tauschte privat D-Mark gegen Rubel.
Dann gab es auch das besondere Vollpensions-Erlebnis der täglich zugeteilten Mahlzeiten. Die Verpflegung mochte zwar den beim Essen eher bescheidenen Briten gefallen haben, dem deutschen Passagier erschien sie dagegen nur drittklassig.
So gab es zum Beispiel für die Gäste eines Vierer-Tisches Wurst, Käse, Brot und Butter nur in abgezählten Mengen. Hier wurde die „Gabeltechnik“ der britischen Mitreisenden praktiziert, das heißt, derjenige, der mit seiner Gabel am schnellsten war, wurde auch satt, die anderen hatten Blessuren an den Händen. Nachschlag gab’s keinen…
Mit den Jahren verlagerte sich der „Diplomaten-Transport“ zunehmend auf den Luftweg, natürlich mit staatseigenen Flugzeugen. Die Linienfahrten der Baltika wurden eingestellt, zumal auch der Zahn der Zeit am Schiff nagte. 1980 diente die Baltika noch einmal als Hotelschiff in Tallinn bei der Olympischen Regatta. Am 28. März 1987 erreichte die Baltika die Abwrackwerften bei Gadani in Pakistan und die Schneidbrenner begannen ihr Werk.