Die Ancerville war eines der letzten großen Linienpassagierschiffe. Nach der Ära wurde sie zu einem Hotelschiff in China umfunktioniert.
Im Jahr 1962 war Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle der Taufpate eines prachtvollen Schiffes, das die französische Compagnie de Navigation Paquet in Auftrag gegeben hatte. Es war ein außergewöhnlich konstruiertes Motorschiff, denn es wurde – seinerzeit einzigartig – wie eine Yacht gestaltet. Das war eine kühne Idee, die de Gaulle zu gefallen schien, denn das gestreamte Profil stand für Modernität. Der Präsident warb gern für das moderne Frankreich. Die Ancerville war das größte Schiff der noch über drei kleinere Einheiten unter 10000 BRT verfügenden Reederei, immerhin konnte es weit über 700 Passagiere transportieren. Bestimmt war es für den Liniendienst von Marseille nach Dakar, der Hauptstadt von Senegal und der am weitesten westlich gelegenen Stadt Kontinentalafrikas an der Atlantikküste.
Es war auch ein Schiff mit einer ungewöhnlichen Gestaltung der Aufbauten. Alle Kabinen wurden im vorderen Teil angeordnet, zudem befanden sich dort auch noch die Kapelle und das Theater. Im Achter-Bereich wurden die öffentlichen Räume platziert. Das war eine neue Nutzungsweise in der Passagierschifffahrt, die als innovativ empfunden wurde. Zudem waren sämtliche Kabinen und die Schlafsäle in der Dritten Klasse mit Bullaugen oder Fenstern versehen, also nach außen gerichtet.
Das Schiff war nach der Stadt Ancerville benannt worden, dem Geburtsort des Gründers der Compagnie de Navigation Paquet (CNP), Nicolas Paquet. An Bord gab es Promenaden, die geschlossen oder offen waren. Dort reihten sich Bars, Restaurants, ein Raucherraum, die Bibliothek, ein Kinderspielzimmer, ein Fotolabor sowie die Wäscherei und das Theater. Achtern stand für die Passagiere ein größerer Swimmingpool zur Verfügung, im vorderen Bereich dagegen ein kleinerer Pool, der später aufgegeben wurde. Das Schiff war vollklimatisiert und mit Stabilisatoren ausgestattet, was ebenfalls als Besonderheit galt. Die Route nach Dakar führte über das marokkanische Casablanca und das spanische Teneriffa, auch Las Palmas wurde gelegentlich angesteuert. Bei der Rückkehr nach Marseille wurden zwei Mal im Monat zur Freude der Mitfahrer die Flaggen aufgezogen.
Die Ancerville wurde als Baunummer M21 von der Werft Chantiers de l’Atlantique in Saint-Nazaire erstellt. Der Stapellauf fand am 5. April 1962 statt, die Übernahme des Schiffes war erfolgte am 20. August des Jahres und am 5. September 1962 die Indienststellung mit einer Kreuzfahrt zu den Kanarischen Inseln.
Das Schiff war 167,95 Meter lang und 21,81 Meter breit, der Tiefgang lag bei maximal 6,62 m. Vermessen wurde es mit 14.224 BRT. Zugelassen wurden von 1962 bis 1973 – in der Liniendienstzeit – 770 Passagiere, die von einer Besatzung von 173 Mitarbeitern betreut wurden. Es galt das Drei-Klassen-System: In der Ersten Klasse wurden 171 Personen, in der Zweiten Klasse 342 und in der Dritten Klasse 243 Passagiere untergebracht. Die Dritte Klasse bot preisgünstige Unterbringungsmöglichkeiten für vier bis zu 10 Personen.
Die Technik war die modernste ihrer Zeit, mit zwei Hauptmotoren von Burmeister & Wain, 12-Zylinder-Zweitakt-Diesel mit 620 Millimeter Bohrung und 900 Millimetern Hub mit Brown-Boveri Turboladern. Die Motoren, die auf zwei Propeller arbeiteten, brachten es auf 17.653 kW (24.001 PS), bei Tests vor der Übergabe des Schiffes waren sogar 25 Knoten erreicht worden; die übliche Dienstgeschwindigkeit betrug 22,5 Knoten.
1970 kam es zu einem Besitzerwechsel, das Schiff ging an die Nouvelle Compagnie de Paquebots (NCP). Zunächst wurden die üblichen Routen weiter befahren, der neue Eigner entwickelte aber aufgrund der zunehmenden Flugkonkurrenz neue Ideen. Die Ancerville wurde mehr und mehr zum Kreuzfahrtschiff, sie brachte Passagiere auf Rundfahrten nach Alicante, Madeira, Tanger oder zu den Kanaren, bald aber auch aus dem Mittelmeer heraus nach Westafrika und Südamerika. Man baute sie zum Einklassenschiff um, es wurden nur noch bis zu 500 Passagiere an Bord gelassen, die Kabinen neu und moderner konfiguriert, die Schlafsäle der Dritten Klasse fielen ganz weg.
Im Juli 1970 war das Kreuzfahrtschiff Fulvia, das zur Costa Crociere gehörte, während einer Fahrt nahe der Kanarischen Inseln in Brand geraten und drohte zu sinken. Die Ancerville kam rechtzeitig zum Katastrophenort, es konnten alle Passagiere und Besatzungsmitglieder aufgenommen und damit gerettet werden.
Danach stand ein Wechsel an, die französische Reederei verkaufte die Ancerville im April 1973 an die chinesische Reederei China Ocean Shipping Company (COSCO). Das Schiff erhielt den Namen Minghua (wird als Spirit of China gedeutet), wechselte den Heimathafen von Marseille nach Guangzhou, wurde noch auf Malta einer Trockendock-Inspektion unterzogen, danach in Hongkong überarbeitet und war bis 1979 fast ausschließlich in den Gewässern Chinas unterwegs. Dann ging es in eine Charter von Asian Pacific Cruises, die vom Ausgangshafen Sydney in Australien Kreuzfahrten rund um den Fünften Kontinent bot. Es ging nach Adelaide, Brisbane, Melbourne, Hobart, Fremantle und Darwin. Hin und wieder wurde die Minghua auch zu Zielen in Asien und bis nach Hawaii eingesetzt. Das erwies sich aber schließlich als unrentabel, weshalb das Schiff im Mai 1983 ausgemustert wurde. Es wurde aufgelegt.
1973 war es in Vietnam zu Spannungen zwischen Vietnam und ethnischen Chinesen gekommen, die sich in der Kolonialzeit im Land niedergelassen hatten. Die chinesische Regierung war genötigt, ihre Landsleute aus der Gefahrenzone zu bringen. Das geschah auch durch die Minghua und ein weiteres Schiff, das Flüchtlinge bei der Evakuierung aufnehmen sollte. Die Vietnamesen ließen das Anlegen der Schiffe nicht zu, es kam zu Verhandlungen, nach Wochen wurde die Mission abgebrochen. Erst im Mai 1979 verbesserten sich die Beziehungen zwischen den Ländern, nachdem auch japanische Politiker für Entspannung sorgten. Chinesen konnten an Bord.
1986 wurde die Minghua in einen neuen Heimathafen überführt – in die chinesische Großstadt Shenzhen nahe der Sonderverwaltungszone Hongkong. Das nach wie vor interessante Schiff, ein Unikat, wurde allerdings umgebaut zu einem schwimmenden Hotel und das mitten in der Stadt in einem früheren Hafenbecken, ganz von Land und Häusern umgeben. Die Rettungsboote samt Davits wurden entfernt, anstatt der Bullaugen bekam das Schiff Fenster in die Seitenwände geschnitten. Seither ist es ein Teil des Freizeit- und Themenparks Shekou Sea World.
Der Umbau wurde zum Neubau, das Schiff verfügte danach über 253 gut ausgestattete Hotelzimmer, mehrere Restaurants mit internationalen Küchenangeboten, Bars, Geschäfte und das Theater der Ancerville ist zu einer Festhalle geworden. Der Pool im Achterschiffbereich wird nach wie vor genutzt. Die Parkanlage, in der die Minghua ihren letzten Ort fand, ist ringsherum durch Erdaufschüttungen gestaltet worden.
1998 trudelte der Themenpark in finanzielle Not, außerdem kam es zu einem Brand an Bord des Schiffes, weshalb es für einige Jahre geschlossen war. Erst nach umfangreichen Sanierungen und einem Besitzerwechsel konnte das Hotelschiff Minghua im Dezember 2004 wiedereröffnet werden. Im Juni 2007 kam es zu extrem starken Regenfällen, eine vier Meter hohe Flutwelle walzte über die Anlage hinweg, die Renovierungsarbeiten reichten bis ins Jahr 2009. Heute ist das einstige Linienpassagierschiff eine der Sehenswürdigkeiten von Shenzhen.
Roland Mischke, maritimes Lektorat: Jens Meyer