Links überspringen

Geisterschiff auf Hoher See

Die Lyubov Orlova war eines von vier Kreuzfahrtschiffen der sowjetischen Mariya-Yermolova-Klasse, benannt nach einer berühmten Schauspielerin. 2013 verschwand sie plötzlich vom Radar.

Auf der Position 51°46’ N035°41’W wurde am 23. Februar 2013 eine Notfunkbake des Schiffes oder eines seiner Rettungsboote auf dem Nordatlantik aktiviert. Ein solches Signal ertönt, wenn diese in einem Boot mit Wasser in Kontakt kommt. Es hätte auch sein können, dass der Sender sich auf seiner Halterung auf dem Schiff gelöst haben könnte und ins Meer fiel. Wochen später, Mitte und im März 2013, wurden noch einige Signale empfangen. Danach herrschte Funkstille.

Das geschah in der Nähe der Küsten von Irland und Großbritannien. Man vermutete einen totalen Schiffsausfall der Lyubov Orlova und erwartete, dass ein schwimmendes Wrack angespült werden könnte. Denn starke Winterstürme sollen das mehr als 4000 Tonnen verdrängende und crewlose Schiff manövrierunfähig gemacht haben, der Sturm bestimmte den Kurs.

Die irische und britische Küstenwache waren alarmiert. Die Irish Coast Guard suchte mehrere Positionen ab, konnte jedoch kein Schiff ausfindig machen. Deshalb wurde vermutet, dass es inzwischen untergegangen war.

Den letzten Kontakt mit der Schiffsbrücke hatte es am 31. Januar 2013 gegeben, da befand sich die Lyubov Orlova noch in kanadischen Gewässern. Sie trieb auf eine Ölplattform zu. Die kanadische Behörde Transport Canada hatte ein Versorgungsschiff namens Atlantik Hawk in den Bereich der Offshore-Anlagen geschickt, um eine Kollision zu vermeiden. Die Lyubov Orlova driftete aber ab. Nachdem das Schiff vier Tage später, am 4. Februar, die 200-Meilen-Zone verlassen hatte, entfiel die Zuständigkeit der kanadischen Behörden. Die Lyubov Orlova, nun in internationale Gewässer gelangt, wurde fortan ihrem Schicksal überlassen.

Die Lyubov Orlova, ursprünglich erbaut als Projekt 1454 unter dem Namen Lyubovy Orlova, wurde nach dem ersten renommierten russischen Filmstar, der Theaterschauspielerin und Sängerin Ljubow Petrovna Orlova (1902-1975), benannt. Im Komödienbereich galt sie als Superkönnerin, spielte in vielen Filmen mit und erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise. Bei der Bevölkerung war sie außerordentlich beliebt.

Gebaut wurde das Schiff 1976 in Jugoslawien, auf der Werft Brodogradiliste Tito in Kraljevica, Auftraggeber war die sowjetische Far Eastern Shipping Company in Wladiwostok. Durch seine spezielle Auslegung galt das Schiff als Linienschiff mit Eisklasse 1 A. Als ab etwa 1999 die Polargebiete interessant wurden für die Kreuzschifffahrt, ließ die russische Lyubov Orlova Shipping Company das Schiff umbauen und vercharterte es an diverse Reiseveranstalter wie Marine Expeditions und Quark Expeditions. Zuletzt war es in der Arktisregion für Cruise North Expeditions, einen kanadischen Spezialisten für Expeditionskreuzfahrten, unter der Flagge der Cookinseln unterwegs. Als Heimathafen wurde Avatiu, ein Ort auf einer der 15 Cookinseln, angegeben.

Foto: Sammlung JSA

Als Baunummer 413 war das Schiff am 19. Juli 1976 in den Dienst gestellt worden. Es war 100,02 bzw. 90 Meter lang und 16,24 Meter breit. Die Seitenhöhe betrug 7 Meter, der Tiefgang lag bei maximal 4,65 Metern, die Vermessung bei 4251 BRT (1439 NRT) und die Tragfähigkeit 1465 tdw.

Der Antrieb erfolgte durch zwei B&W-Uljanik-Achtzylinder-Dieselmotoren des Typs 8M 35BF 62, die auf zwei Festpropeller arbeiteten. Die Maschinenleistung lag bei 3884 kW (5281 PS). Die Höchstgeschwindigkeit betrug 17,2 kn (32 km/h). Die Stromversorgung erfolgte über vier Dieselgeneratoren mit einer Leistung von jeweils 352 kW.

Nach Angabe des Eigners gab es auf vier Decks verteilt 56 Paxkabinen mit 237 Kojen, die Bettenkapazität für Passagiere wurde 1999 für den Einsatz als Kreuzfahrer auf in 110 reduziert. Das Schiff wurde im Russian Maritime Register of Shipping geführt und hatte die Registernummer IMO 7391434.

Ende September 2010 war die Lyubov Orlova in St. John’s, Neufundland, angekommen. Ein Spediteur ging wegen offener Forderungen in Höhe von rund 251.000 US-Dollar gegen den Reeder des Schiffes an. Daraufhin wurde es in die Kette gelegt. Zudem hatte die Besatzung, die aus 51 russischen und ukrainischen Seeleuten bestand, seit fast sechs Monaten keine Heuer mehr ausgezahlt bekommen. Das brachte die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) in Bewegung, sie wollte der Besatzung helfen, holte die Männer von Bord und organisierte ihre Repatriierung in die Heimatorte. Am 5. April 2011 wurde das von seinem russischen Eigner aufgegebene Schiff aus dem Register of Shipping Russian Maritime gelöscht.

Im Februar 2012 ersteigerte es ein iranischer Kaufmann für 275.000 US-Dollar. Er wollte es zum Abwracken in die Dominikanische Republik bringen lassen. Am 23. Januar 2013 sollte die Fahrt beginnen, doch im stürmischen Wetter rissen die Leinen. Beim zweiten Versuch am 31. Januar 2013 kam es wegen des hohen Wellengangs ebenfalls zum Bruch der Schleppverbindung. Die Verschleppungscrewmitglieder gaben sich größte Mühe, das Schiff unter Kontrolle zu halten, aber sie schafften es nicht.

Danach war die Lyobov Orlova nicht mehr beherrschbar und trieb als Geisterschiff hinaus auf den Nordatlantik in Richtung Europa.

Foto: Sammlung JSA

Sie wurde zum Schiff der Ratten. Die Nager sollen derart zahlreich an Bord gewesen sein, so dass sie, als die vorhandene Nahrung aufgefressen war, kannibalisch übereinander herfielen. Sie trieben mit den Strömungen auf dem Schiff, von dem niemand wusste, ob es in Richtung Grönland oder Südafrika vertrieb. Kontakte mit der russischen Armee und Küstenwachen, die der belgische Abenteurer Pim de Rhoodes geführt hatte, führten nicht zur Klarheit. Rhodes ist Schatzjäger und befasst sich mit schwierigen Bergungsmissionen von Schiffen.

De Rhoodes sagte 2014 der „Welt“: „Bei der Lyubov Orlova waren alle Fenster und Türen geschlossen, als sie sich losriss. Sie hat auch nicht, wie zum Beispiel Fischerboote, eine große Öffnung an Deck. Außerdem wurde das Schiff für Reisen in Polarregionen gebaut, das heißt, es ist sehr robust. Entscheidend ist nun, wie gut sie ausbalanciert war. Sie war sehr leer, es war also kein Treibstoff mehr an Bord, keine Ladung und keine Menschen, deshalb ist sie jetzt vermutlich sehr leicht, die reduzierte Stabilität könnte zum Problem bei starkem Seegang werden. Theoretisch könnte sie aber noch auf dem Meer treiben. Es gab schon viele Geisterschiffe, die das geschafft haben. Es ist ein wunderschönes Schiff. Die Lyubov Orlova hat Charakter.“

Das Rätsel um das Rattenschiff ist nach wie vor ungeklärt. Nachdem es lange im Atlantik hier und da auftauchte, verschwand es. Einerseits kann es nicht untergegangen sein, dann hätten die Rettungsboote automatisch Notsignale gesendet. Andererseits: Ein ehemaliger Kreuzfahrer treibt auf dem Nordatlantik umher, ohne Menschen an Bord, er wird allmählich zerstört. Niemand ist verantwortlich für eine Bergung.

Das Geisterschiff ist heute uninteressant, es stellt keinen Wert mehr dar. Kein Küstenstaat hätte Interesse, einen Nothafen zur Verfügung zu stellen, das ist viel zu teuer. So bleibt die Lyubov Orlova auf Hoher See, wenn sie nicht doch schon versunken ist.

Roland Mischke, maritimes Lektorat: Jens Meyer