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GOLDSCHIFF IN NOT

Die Vestris war ein ansehnlicher und luxuriöser Passagierdampfer, der zugleich Ladung und Post beförderte. Nach nur 18 Jahren geriet er in eine tragische Situation.

Fahrlässigkeit kann tödlich sein, vor allem auf einem Ozeandampfer. Die Vestris, ein Passagierschiff der britischen Reederei Lamport & Holt, befand sich auf einer La Plata-Reise von Hoboken, New Jersey am Hudson gegenüber von Manhattan/New York, nach Brasilien, Argentinien und Uruguay. Das war im November 1928, das Schiff geriet in einen der in diesen Gewässern gefürchteten Herbststürme. An Bord befanden sich unter den Schiffsgästen und Personal bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Mehrere von ihnen überlebten die Fahrt nicht.

Vestris Untergang (1928), Foto: Sammlung Jens Meyer

Das Schiff hatte 198 Besatzungsmitglieder und 128 Passagiere an Bord. Zudem einen erfahrenen Kapitän auf der Brücke, William John Carey, 59, ein altgedienter Seemann und Kommodore der Reederei. Nach dieser Fahrt war er als Chef für ein neues, größeres Schiff auserkoren worden, die Voltaire, die noch mehr Passagiere aufnehmen konnte als die Vestris mit Platz für 325 Personen.

In Brooklyn war das Schiff zuvor in einem Dock trockengestellt worden, der Stahlrumpf wurde gereinigt und neu angestrichen. Dann aber wurde es – wieder im Wasser – bei starkem Wind in ein Malheur verwickelt. Sie wurde gegen ein anderes Schiff gedrückt, der Farbanstrich wurde stark beschädigt und es konnte möglich sein, dass es an der Steuerbordseite zu dem Schaden kam, der zu einem schweren Schiffsunglück führte. Die Ballasttanks waren nicht gelenzt, die Bebunkerungsluken mit Kohle bedeckt und nicht gesichert und angeblich auch die Lademarken überschritten. Einige Männer der Besatzung sahen, dass eine Luke zur Übernahme von Kohle defekt war, sie konnte nicht korrekt verschlossen werden. Ob das dem Kapitän gesagt wurde, ist nicht bekannt, die Anker wurden gelichtet, das Schiff stach in See. Dass da eine leichte Schlagseite nach Steuerbord übergangen wurde, ist tragisch, zumal Seewasser in den Rumpf lief. Damit war das Schicksal der Vestris vorgegeben – ihr Untergang, bei dem 112 Menschen ihr Leben verloren.

Die Vestris war als Baunummer 303 in Belfast von der Werft Workman, Clark & Co. Ltd. erstellt worden, am 16. Mai 1912 lief sie vom Stapel, ihr Heimathafen war Liverpool. Sie gehörte zum Eigentum der 1845 gegründeten britischen Reederei Lamport & Holt Line und beförderte als Linienschiff Personen, aber auch schwere Güter – auf dieser Tour Bauteile von Fahrzeugen, drei Chevrolets, mehrere Dutzend Kisten mit Schreibmaschinen sowie viele Tonnen Obst – und Post aus England via New York in die Länder Südamerikas.

Das Schiff war modern in seiner Zeit, 151,2 Meter lang, 18,44 Meter breit und hatte einen Tiefgang von maximal 8,75 m. Die Verdrängung lag bei 16.980 Tonnen, die Vermessung bei 10.494 BRT (6622 NRT). Es verfügte über fünf Doppelend-Dampfkessel und zwei vierzylindrige Vierfachexpansion-Dampfmaschinen mit einer Leistung von 8000 PS, die auf zwei Propeller arbeiteten. Die Höchstgeschwindigkeit lag bei 15 Knoten (28 km/h). Es hatte drei Decks: Schutzdeck, Hauptdeck und Oberdeck sowie fünf Laderäume. 14 Rettungsboote aus Holz der Marke Martin waren auf dem Schiff, gedacht für rund 800 Personen im Notfall. Dazu hatte das Schiff elektrisches Licht, ein Ventilationssystem und drahtlosen Funk. Die Aufenthaltsräume waren luxuriös gestaltet mit hellen Farben. Die Zeit des schweren dunklen Mobiliars ging zu Ende. Lloyds Register of Shipping hatte die Vestris in die höchstmögliche Klasse eingestuft: 1A. Die Besatzung bestand in der Regel aus 250 Personen, das Schiff hatte Platz für 280 Passagiere in der Ersten Klasse, 130 in der Zweiten und 300 in der Dritten Klasse.

Die Vestris war die Nummer drei in der neuen V-Klasse Schwesterschiffen der Londoner Reederei, nach der Vandyck (1911) und der Vauban (1912). Die am 19. September 1912 beginnende Jungfernfahrt führte das Schiff von Liverpool nach Rio de la Plata, die Ziele waren die großen Hafenstädte, Rio de Janeiro, Montevideo und Buenos Aires. Die Vestris war auf dieser Strecke der wohl populärste Dampfer.

Im Ersten Weltkrieg, in dem das Schwesterschiff Vandyck am 26. Oktober 1914 von dem deutschen Kreuzer SMS Karlsruhe aufgebracht und versenkt worden war, wurde die Vestris zeitweise aus dem Passagierverkehr genommen, es brachte Ärzte und medizinisches Personal von den USA nach Frankreich. Es war ein glücklicher Umstand, dass die Vestris am 16. Januar 1918 im Ärmelkanal nur knapp dem Torpedo eines deutschen U-Boot entgehen konnte. 1919 hatte Cunard Line das Schiff für Fahrten zwischen Liverpool, New York und Buenos Aires gechartert. Im August des Jahres brach im Kohlenbunker ein Feuer aus, die Vestris wurde von einem britischen Kriegsschiff nach Saint Lucia in den Kleinen Antillen eskortiert, wo der Brand nach mehreren Tagen endgültig gelöscht werden konnte, die 550 Menschen an Bord waren nicht betroffen. 1922 war der Dampfer für einige Zeit in Diensten von Royal Mail. Inzwischen war es zum „Goldschiff“ geworden, es hatte häufig Gold im Wert mehrerer Millionen Dollars von Banken in den USA und Argentinien an Bord.

Am 10. November 1928, einem Sonnabend, begann gegen 16.00 Uhr Ortszeit die schicksalsschwere Reise, auf Barbados gab es einen Zwischenstopp. Die leichte Schlagseite, die schon in Hoboken erkannt worden war, wurde am 11. November zur schweren Schlagseite, weil der Sturm die Wassermassen in die Kohlenbunker wuchtig hineinklatschte und Teile der Ladung und Bunkerkohle verrutschten, was auch dazu führte, dass zwei Rettungsboote vom grünen Wasser auf dem Bootsdeck hinweggefegt wurden. Kapitän und Chefingenieur berieten sich, man entschied, die Ballasttanks in den Kesselräumen zu fluten und das stark krängende Schiff durch Abpumpen der über die Flurplatten hinaus überfluteten Bunkerräume wieder aufzurichten. Kapitän Carey informierte die Reederei in London, sandte aber keinen Notruf. Passagiere, die sich wunderten, wie das Schiff seitlich absackte, wurden hingehalten.

Am 12. November sah sich Carey um 8.37 Uhr genötigt, über Funk um Hilfe zu rufen, wobei die im SOS-Ruf angegebene Position um 37 Meilen vom korrekten Standort abwich. Zwischen 11 Uhr und Mittag gab der Kapitän das Schiff auf und begann mit der Evakuierung, die Schlagseite lag bereits bei 30 Grad. Es war nicht mehr möglich, die in den Stroppen der Davits hängenden Rettungsboote ordnungsgemäß an Backbordseite des bereits sinkenden Schiffes zu Wasser zu lassen. Ein mit Frauen und Kindern besetztes Rettungsboot hatte sich überschlagen, Mütter, Söhne und Töchter wurden vor den Augen der Passagiere ins Meer geschleudert. Ein herabstürzender Davit fiel in ein besetztes Rettungsboot und tötete mehre Insassen und versenkte es. Auch drei weitere Backbord-Boote kenterten, Boot Nr. 4 wurde noch in den Davits hängend mit in die Tiefe gerissen. Einige Passagiere konnten sich an der Reling festhalten, andere Insassen verschwanden im Meer. Um 13 Uhr brach ein wasserdichtes Schott, gegen 14.30 Uhr kenterte die Vestris, 250 Meilen östlich von Hampton Roads von Virginia. Der Dampfer versank in den Gewässern des Golfstroms, in denen sich Haie aufhielten, die im Wasser treibende Passagiere angriffen und töteten. Nach den übereinstimmenden Angaben der offiziellen Untersuchung und der New York Times überlebten 111 Personen das Unglück nicht. Nur 60 der 128 Passagiere und 155 der 198 Besatzungsmitglieder konnten geborgen werden, alle 13 Kinder und 23 der 33 Frauen kamen ums Leben. Die US-amerikanischen Autorennfahrer Earl F. Devore aus Los Angeles und Norman K. Batten aus Dayton in Ohio verloren ihr Leben, ihre Ehefrauen überlebten. Zu den weiteren Passagieren, die ums Leben kamen gehören: Sidney S. Koppe aus New York, Chef einer Werbefirma; der japanische Konsul in Argentinien, Yoshio Inouy; Wyatt A. Brownfield, Chefingenieur der Kentucky Rock and Asphalt Company. Weitere 67 Passagiere und 45 Mann der Besatzung. Auch Kapitän Carey überlebte die Katastrophe nicht. Ihre Leichen, die später gefunden wurden, waren von Haien zerfressen worden. Es überlebten der New Yorker Korrespondent der argentinischen Zeitung La Nación, William W. Davies; Herbert C.W. Johnston, Geschäftsführer der Trinidad Leaseholds Ltd.; James Forbes Twomey, Manager der Electric Bond and Share Company; der Millionär und frühere Präsident der First National Bank von Odebolt, William Phipps Adams; der argentinische Konsul in New York, Carlos Quiros.

Kleinere Schiffe der United States Lines erreichten erst ab 17.45 bzw. in den Morgenstunden des 13. November den Unfallort, darunter auch der Ozeandampfer Berlin des Norddeutschen Lloyd. Ebenso waren das Schlachtschiff Wyoming, die American Shipper und der französische Öltanker Myriam hilfreich. Sie nahmen die Überlebenden auf. Dabei kam heraus, dass der Zustand der Schwimmwesten miserabel war. Rd. 600 Kläger forderten Schadensersatz in Höhe von 5 Mio. Dollar. Die Reederei hatte lange mit der schlechten Presse zu tun, in der Weltwirtschaftskrise kam es zu weiteren Problemen, der Passagierverkehr schrumpfte, mehrere Schiffe mussten aus dem Verkehr gezogen werden.

Das Wrack der Vestris befindet sich auf der Position 37º 25‘ N, 70º 33‘ W.

Roland Mischke, maritimes Lektorat: Jens Meyer