Petra Reski ist eine bekannte deutsche Schriftstellerin und Journalistin, die seit vielen Jahren in Venedig lebt. Ihr letztes Buch: „Als ich einmal in den Canal Grande fiel“ erschien 2021.

Foto: Paul Schirnhofer
Ihre Wahlheimat Venedig liegt Ihnen am Herzen. Dabei haben Sie sich schon seit Jahren immer gegen eine Präsenz großer Schiffe vor allem aus dem Kreuzfahrtbereich ausgesprochen. Wie ist der Stand heute?
Wie es sich für Fake News gehört, hat sich die Falschmeldung von der „Verbannung der Kreuzfahrtschiffe aus Venedig“ in der Welt schneller verbreitet als das Coronavirus. In der Pandemie sehnt sich der Mensch nach guten Nachrichten, nach den Davids, die gegen Goliath siegen, folglich wollte wohl niemand wahrhaben, dass die Kreuzfahrtschiffe nach wie vor in Venedig einfahren dürfen. Der einzige Unterschied besteht jetzt nur darin, dass die Kreuzfahrtschiffe über 25 000 BRZ und 180 Metern Länge jetzt einen anderen Weg nehmen müssen, über den Canale dei petroli, den Kanal für die Erdöltanker, der zur verheerenden Erosion des zentralen Teils der Lagune geführt hat – der als „Killer“ der Lagune gilt: eine zwanzig Kilometer lange und zweihundert Meter breite Schiffsautobahn, zwischen 11,5 und 17 Metern tief, die von der Lagunenöffnung in Malamocco zum Industriehafen in Marghera führt. Hier herrscht eine Höchstgeschwindigkeit von zwanzig Stundenkilometern, wodurch jede Durchfahrt eines Tankers oder eines Kreuzfahrtschiffs für einen kleinen Tsunami in der Lagune sorgt. Für die Lagune ist es gleichermaßen verheerend, ob die Kreuzfahrtschiffe, die heute meist mit mehr als 140 000 BRZ vermessen sind, über das Markusbecken einfahren oder über den Kanal für Erdöltanker. Der Umweg, den die Kreuzfahrtschiffe jetzt nehmen, ist lediglich ein Bluff, der an der Zerstörung der Lagune nichts ändert – aber der italienischen Regierung half, ihr Gesicht gegenüber der Unesco zu wahren. Denn die hatte mal wieder damit gedroht, Venedig auf die rote Liste des bedrohten Welterbes zu setzen.
Gibt es Ihrer Meinung nach überhaupt eine Zukunft für den Kreuzfahrttourismus in Venedig?
Venedig ist ein Emblem für eine Stadt, die inkompatibel ist mit Kreuzfahrtschiffen: Der Hafen von Venedig befindet sich inmitten einer Lagune, die für Riesenschiffe naturgemäß nicht tief genug ist. Die Lagune ist eigentlich ein Flachwassergebiet, ursprünglich zwischen 40 und 70 Zentimetern tief, durch die Erosion aufgrund des Schiffsverkehrs in den tiefer gegrabenen Kanälen ist sie heute im Schnitt zwei Meter tief. Für den Industriehafen von Marghera wurde im 19. Jahrhundert erst der Kanal Vittorio Emanuele gegraben und mit dem Bau der Petrochemieanlage in Marghera in den 1960er Jahren, der Kanal für die Erdöltanker. Schon in den 1970er Jahren wiesen Wissenschaftler nach, wie sich dadurch die Strömungsverhältnisse in der Lagune verändert hatten, was durch das Betonieren der Lagunenöffnungen für den Bau des Flutsperrwerks Mose noch verstärkt wurde: Die Tiefe des Kanals erhöht die Fließgeschwindigkeit des Wassers. Wenn der Grund tiefer ist, hat der Wind eine andere Wirkung: In der Lagune herrscht heute ein Wellengang wie im Atlantik, von Flachwasser kann keine Rede mehr sein. Weil sich der zentrale Teil der Lagune in einen Meeresarm verwandelt hat, wird das Hochwasser durch nichts gebremst und fließt immer schneller und immer wuchtiger in die Stadt, was sich zuletzt bei der Sturmflut vom November 2019 verheerend auswirkte.
Ungeachtet dessen plant die italienische Regierung in schönster Harmonie mit dem Bürgermeister und der Regionalregierung für die Kreuzfahrtschiffe nicht nur den Kanal für die Erdöltanker, sondern auch den Kanal Vittorio Emanuele zu vertiefen – das Ganze ohne die eigentlich unerlässliche Umweltprüfung. Ein weiteres Ausgraben der Kanäle würde das endgültige Ende nicht nur für die venezianische Lagune, sondern auch für Venedig bedeuten.
Was wären akzeptable Alternativen?
Im Grunde hat ein Kreuzfahrthafen in Venedig keine Zukunft. Ein Tiefseehafen wie der von Triest ist viel eher dafür gemacht – es würde sich lohnen, in es eine schnelle Zugverbindung zu investieren, damit die Kreuzfahrtouristen Venedig auch von Triest aus besuchen könnten. Der Bootsverkehr in Venedig muss radikal umgedacht werden, einzig kleine Kreuzfahrtschiffe ohne Tiefgang hätten hier eine Chance. Denn selbst mit Plänen für Anlegestellen außerhalb der Lagune wird Haarspalterei betrieben: Da ist zum Beispiel das Projekt des Stahlkonzerns Duferco, das vorschlägt, fünfhundert Meter von der künstlichen Betoninsel der MOSE-Schleuse entfernt ein Kreuzfahrtterminal zu bauen. Das würde dazu führen, dass für dieses Projekt weitere Millionen Kubikmeter Lagunengrund ausgraben werden müssten und Heerscharen von Kreuzfahrttouristen die Lagune durchqueren und ihr damit den Todesstoß versetzen würden.
Was für eine Rolle spielt MOSE für Sie?
Mal abgesehen von der Kleinigkeit, dass es sich hierbei um den größten Schmiergeldskandal der italienischen Nachkriegszeit handelt, hat die Zerstörung der Lagune mit dem Bau des Flutsperrwerks M.O.S.E. – bewegliche Wassertore am Meeresgrund sollen bei einer großen Flut wie Dämme funktionieren – ihren Höhepunkt erreicht. Das vom Consorzio Venezia Nuova, einem privaten Zusammenschluss italienischer Bauunternehmer, ohne jede Ausschreibung verwirklichte Projekt berücksichtigt weder die Bedingungen unter Wasser – die Scharniere der Fluttore sind bereits verrostet, Ablagerungen haben die Fluttore verrotten lassen – noch den Anstieg des Meeresspiegels: Die Öffnungen der Lagune zum Meer wurden noch tiefer ausgehoben, was für Venedig noch mehr Hochwasser bedeutet. Ergebnis ist das, was man in Venedig die laguna ferita nennt, die verletzte Lagune: Das Paradigma eines alten Körpers, der täglich verstümmelt, vergiftet und ausgeweidet wird. M.O.S.E. hat rund 8 Milliarden Euro gekostet, das Projekt ist 30 Jahre alt und gilt jetzt schon als überholt: Der Anstieg des Meeresspiegels wurde beim Bau und der Planung des Milliardenprojekts M.O.S.E. einfach heruntergerechnet: Als die Forscher des Weltklimarats IPCC bereits vor einem Anstieg zwischen 50 und 88 Zentimetern bis Ende dieses Jahrhunderts warnten, haben die Wissenschaftler, die im Sold des mit dem Bau von M.O.S.E. beauftragten Zusammenschluss privater italienischer Bauunternehmer standen, den Anstieg des Meeresspiegels auf sehr optimistische 22 oder schlimmstenfalls 31,4 Zentimeter heruntergerechnet. Angesichts des steigenden Meeresspiegels müssten die Tore des Flutsperrwerks M.O.S.E. bald praktisch jeden Tag schließen – und die Schiffe können nicht mehr einfahren.
Jetzt kostet jeder Einsatz von M.O.S.E. rund 300.000 Euro – und Wissenschaftler berichten bereits über erste Schädigungen der Lagune. Wie eine in Nature veröffentlichte Untersuchung feststellte, sind durch die Schließung der Fluttore die für die Lagune von Venedig lebenswichtigen Salzwiesen gefährdet: M.O.S.E. löst zwar die Probleme des Hochwassers für die bebauten Gebiete, zerstört aber andererseits die Salzwiesen, weil sie die durch die Überflutungen angeschwemmten Sedimente zum Überleben benötigen. Kurz: Wir befinden uns dank M.O.S.E. in einem Teufelskreis. Das Grundproblem bleibt nach wie vor der Hafen von Venedig. Denn das Hochwasser, das M.O.S.E. bekämpft, ist erst durch die Zerstörung der Lagune, durch das Tiefergraben der Kanäle für den Schiffsverkehr entstanden. Der Meeresspiegelanstieg verstärkt das zwar, aber das wesentliche Problem ist die Erosion der Lagune.
Ökologisch sehen Sie in absehbarer Zeit ein Ende der Lagune von Venedig bevorstehen. Worauf beruht diese (düstere) Prognose?
Ich sehe vor allem ein Ende für den Hafen von Venedig. Er ist mit Venedig nicht kompatibel. Wer weiter auf dem Betreiben des venezianischen Hafens besteht, nimmt das Ende von Venedig in Kauf: Venedig kann ohne seine Lagune nicht existieren. Wenn sie zerstört wird, wird auch Venedig zerstört.