Ein Standardwerk: In „Die Ostsee. Berichte und Geschichten aus 2000 Jahren“ erzählen mehr als 100 Wissenschaftler, Forscher, Kaufleute und Dichter von der Baltischen See. Roland Mischke hat sich durch den Wälzer gegraben und lauter Schätze gehoben.
Die Strände sind mattweiß, gelb und pflanzendunkelgrün, von sand- und gischtgrau dominierenden Farben durchsetzt. Mit Macht rollen die Wellen heran, sie treiben einen sanften Salzgeschmack auf die Lippen, in den Ohren röhrt der Wind. Es ist eine besondere Stimmung, in der sich festlich gekleidete Menschen an einem kühlen Tag über den Strand bewegen. Es sieht aus wie eine Prozession. Es sind Musiker aus dem gesamten Ostseeraum, die am Meeresrand Atmosphäre aufnehmen, bevor sie ihre Hörerschaft mit Klassikmusik begeistern.
Usedom hat im Herbst und Winter viele Besucher, die relativ kleine Insel ist inzwischen ein Magnet. Aber zum Usedomer Musikfestival im Herbst, 2018 zum 25. Mal ausgetragen, reisen nicht übliche Stadttheaterkonzert-Abonnenten an, sondern solche, die das Regionalspezifische suchen, das Ostseegefühl. Orchester und Musiker spielen in Sälen auf, in Herrenhäusern der Kaiserbäder, im riesigen Kraftwerk der einstigen NS-Heeresversuchsanstalt Peenemünde, bei gutem Nachmittagswetter sogar auf Seebrücken. Die Kulisse ist stets die Ostsee, klein im Vergleich mit anderen Meeren, aber mit Größe, weil die Künstler unterschiedliche Nationen vertreten und völkerverbindend agieren.
Bis zu 85 Millionen Menschen sind Ostsee-Anrainer. Die meisten leben in Städten wie Rostock, Danzig, Kaliningrad, Klaipeda, Riga, Tallinn, St. Petersburg, Oulu, Stockholm, Malmö und Kopenhagen. Die Städte grenzen an Flensburger Börde, Kattegat, Skagerrak, Bottnischen Meerbusen oder Stettiner Haff. Eigenständige Staaten mit territorialem Ostseeanschluss sind Deutschland, Dänemark, Schweden, Finnland, Russland, Estland, Lettland, Litauen und Polen. Im Englischen wird das Meer „Baltic Sea“ genannt, im Litauischen „Baltas“ (Weiß), die Römer sprachen einst vom „Mare Suebicum“, benannt nach den an den Südküsten lebenden Sueben.
Ein Buch mit Erzählungen
Klaus-Jürgen Liedtke ist als Herausgeber bemüht, die „Ostsee-Natur und Ostsee-Zivilisation lesbar zu machen“. Der freie Schriftsteller und Übersetzer ist gelernter Skandinavist und Germanist, er übersetzt vor allem aus dem Schwedischen. Er hat Preise aus Ostseeländern erhalten und das deutsche Bundesverdienstkreuz. Er war bemüht, die Fülle der Aussagen und Texte zur Ostsee breit aufzublättern. Dabei hat er auch Mythen und Legenden mitaufgenommen. Die Ostsee, das Binnenmeer von 55 Metern mittlerer Tiefe, die riesige Badewanne aus der letzten Eiszeit vor etwa 12 000 Jahren, verbindet ihre Anrainer.
Der vor fast 2000 Jahren geborene Cornelius Tacitus war ein römischer Senator und vielreisender Historiker. „Nur bis dort“, der Ostsee, „erstreckt sich die Welt“, schrieb er. Seine Uferbewohner trügen „Eberamulette mit sich herum“ und „verehren eine Muttergottheit“. Er registrierte, dass die „Barbaren“ Bernstein sammeln und hart auf ihren Feldern arbeiten. Ihre Mentalität erscheint ihm skurril, sie hätten „sich des Allerschwersten versichert: niemals von einem Wunsche belästigt zu werden.“
Auch andere Reisende, wenige in den Jahrhunderten, die Ostsee lag abseits, beschreiben das „Barbarenmeer“, an dem rückständige Völker wohnen. Die Frauen seien Amazonen, schreibt Adam von Bremen, ein Chronist im 11. Jahrhundert. Sie lassen sich von Männern schwängern, um sie danach zu vertreiben. Lange Zeit waren Bewohner der Ostseeregionen isoliert von der Welt, was in der Antike, dem Mittelalter oder in der Renaissance geschah, bekamen sie nicht mit. Nur langsam brachte die Christianisierung die Bauern und wilden Krieger mit Menschen außerhalb ihresgleichen zusammen. Sie litten unter den Wikingern, den nordgermanischen Räubern des Frühmittelalters. Olaus Magnus, ein schwedischer Theologe und Geograph, lieferte im 16. Jahrhundert eine erste „Beschreibung der Völker des Nordens.“….
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„Die Ostsee. Berichte und Geschichten aus 2000 Jahren.“
Hgb. Klaus Jürgen Liedtke, Galiani Verlag, Berlin, 656 S., 39 €
ISBN: 978-3-86971-175-1, www.galiani.de