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SCHIFF MIT KULTURSCHOCK

Das italienische Kreuzfahrtschiff Michelangelo wurde 1965 als Transatlantikdampfer der Reederei Italia Società di Navigazione nach dem Renaissancekünstler benannt und schnell berühmt.

Warum wurde dieses elegante Schiff, smart und geschmeidig, mit weißem Rumpf und einem umlaufenden Streifen in sattem Grün als „Fleischdampfer“ tituliert? Es hatte nichts mit seiner Gestalt, der Ausstattung oder dem riesigen Passagierbereich zu tun, sondern mit den 1775 Passagieren und 775 Besatzungsmitgliedern, von denen die Kellner an sonnigen Tagen mit dem Nachschub an Getränken kaum nachkamen. Das Schiff besaß rund um den Swimmingpool Reihen von dicht belegten Liegestühlen, auf denen sich Touristinnen und Touristen drängten, flirteten, sich mit der täglichen Bordzeitung und der darin wichtigen Sportseite vergnügten und des Lebens freuten – trotz der oft geballten Hitze. Viele von ihnen verließen den Dampfer knackig braun, deshalb erhielt er seinen derben Namen.

Foto: Sammlung Jens Meyer

Schiffsliebhaber waren vernarrt in diesen enormen Dampfer, weil er trotz der Dimensionen immer noch aussah wie ein Schiff und nicht wie ein schwimmendes Hotel. Er hatte klare Konturen, traditionelle Schiffslinien und eine kubische Form wie in den alten Zeiten der Seefahrt. Es war ein Schiff, das von seinen Fans geliebt wurde; die meisten waren vermögende ältere US-Amerikaner, „klunkerbehangen“, schreibt Clemens Külberg.

Der Hamburger ist als ehemaliger Mitarbeiter im Frachter Altmark Autor von „Bordgeschichten“. Er erzählt, warum ihn das Schiff in den 1970er Jahren so beeindruckte. „Was uns auf der Michelangelo erwartete, war schlichtweg ein Kulturschock“, heißt es darin. Als die Passagiere auf einem Ausflug waren, konnten er und ein Kollege das Schiff in aller Ruhe und unter sachkundiger Führung begutachten, „von oben bis unten, in allen Preisklassen. Es sprengte unsere Vorstellungswelt der Schifffahrt, hatten wir doch täglich auf unserem Alttonnage-Dampfer eine andere Dimension der Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord. Brücke, Maschine – gigantisch. Flaniermeilen, ähnlich heutiger Fußgängerzonen, nach Klassen unterteilt, mit Shoppingmöglichkeiten jeder Art. Gemäldegalerien, Bibliotheken, museale Ausstellungen, Schönheitssalons, Kinos, Theater, Bars, Pubs, Restaurants – nichts fehlte.“ Die Gäste imponierte die Luxusklasse, die Kabinenklasse und die Touristikklasse. „Dafür gab es u.a. sogar unterschiedliche Swimmingpools.“

Foto: Sammlung JSA

Der Autor bestaunte auch „die bordeigene Feuerwehr mit kompletten Löschzügen und ein separates Einkaufscenter für die Besatzung – eine Stadt auf dem Wasser“. In der Großküche begeisterten ihn „Fleischerei, Konditorei und riesige Schiffsbäckerei, in denen im Drei-Schicht-Rhythmus emsig gewuselt wurde. Gabelstapler waren in den Proviant- und Warenlasten im Dauereinsatz. Einfach beeindruckend.“ Nachdem die Passagiere essensmäßig versorgt waren, trafen sich die Bordmitarbeiter in ihrem „riesigen Speisesaal wieder, in dem gerade die zweite Schicht von ca. 250 Stewards ihr Abendbrot einnahm“. Beeindruckt war Clemens Külberg auch von dem Angebot an edlen Weinen.

Das Passagierschiff Michelangelo wurde als Baunummer 1577 von der Werft Cantieri Navali Ansaldo di Sestria Ponente erstellt und lief am 16. September 1962 vom Stapel. Wegen der umfangreichen Ausstattung des Luxusdampfers dauerten die Feinarbeiten noch bis April 1965. Am 5. Mai des Jahres erfolgte die Indienststellung. Das Schiff war 276,2 Meter lang und 30,12 Meter breit, der Tiefgang lag bei maximal 10,4 Metern. Die Vermessung wurde mit 45.911 BRT und die Tragfähigkeit mit 9192 tdw angegeben, Heimathafen war Genua. Der Antrieb erfolgte durch 4 Ansaldo-Dampfgetriebeturbinen, die auf zwei Propeller arbeiteten. Die Maschinenleistung lag bei 87.000 PS (63.988 kW), die Geschwindigkeit 26,5 32 Knoten (49,08 km/h). Nach der Montage neuer Propeller und Modifikationen am Getriebe nach den ersten technischen Probefahrten vor der Übergabe wurde eine Spitzengeschwindigkeit von 31,59 kn erreicht. In der Ersten Klasse waren 535 Personen in den besten Kabinen untergebracht, in der Kabinenklasse 550 und in der Touristenklasse 690 Passagiere. Taufpatin war die italienische Filmschauspielerin Virna Lisi. Zudem gab es die Raffaello, das zeitgleich von Cantieri Riuniti dell’Adriatico in Triest gebaute Schwesterschiff.

Foto: Sammlung JSA

Die Michelangelo mit ihrer schnittigen Silhouette hatte einen Rumpf, der komplett in leuchtendem Weiß gehalten wurde, nicht in Schwarz wie es für Passagierschiffe üblich war. Die Schornsteine waren im oberen Teil mit schwarzen Luftleitblechen ausgestattet und umschlungen von einem massiven Gitterwerk, wodurch ein Übermaß Rauch und Ruß auf den hinteren Aussendecks verhindert werden sollte. Die Jungfernfahrt führte von Genua nach New York, die Italiener waren stolz auf ihre topdesignten Dampfer.

Foto: Sammlung JSA

Am Morgen des 12. April 1966 – fünf Tage nach der Abfahrt von Genua – kam es unter der Führung von Senior-Kapitän Giuseppe Soletti zu einem Unglück, als sich 1495 Passagiere und zahlreiche Besatzungsangehörige an Bord befanden. Ein starker Sturm auf dem Atlantik baute eine ungewöhnlich riesige Welle auf, die mit voller Wucht gegen die Aufbauten des Vorschiffs klatschte und zu großen Schäden führte. Zwei Passagiere – der Hamburger Dr. Werner Berndt und John Steinbach aus Chicago – sowie ein Besatzungsmitglied, Desidero Ferrari, kamen dabei zu Tode, über 50 Passagiere erlitten Verletzungen. Auf der Reise befanden sich auch Autoritäten an Bord, unter anderem der US-amerikanische Cartoon-Zeichner Bob Montana mit Frau und vier Kindern, der spätere Literaturnobelpreisträger Günter Grass mit Ehefrau Anna und der Präsident der Italian Line, Admiral Ernesto Giurati. Bei der anschließenden Reparatur der Schäden wurde die Aluminiumpeplattung des Aufbaus durch Stahlplatten ersetzt. Ein ähnlicher Umbau erfolgte auch bei dem Schwesterschiff Raffaello.

„Michelangelo“ und ihr Schwesterschiff „Raffaello“, Foto: Archiv U. Horn

Indes: Der Michelangelo widerfuhr das Schicksal der ganzen Schiffspassagierfahrt im großen Stil schon ab Ende der 1960er Jahre. Der kommerziell anschwellende Luftverkehr übernahm der Schifffahrt die Kunden weg, teilweise soll es auf manchen Routen mehr Besatzung als Fahrgäste gegeben haben. Staatssubventionen halfen noch einige Jahre aus, die Reederei verminderte das Personalaufgebot, die Geschwindigkeit und die Liegezeiten, um zu sparen, doch die finanziellen Verluste waren katastrophal. Deshalb wurde entschieden, dass Passagier- zum Kreuzfahrtschiff umzuwandeln, doch dafür war es wegen seiner zahlreichen fensterlosen Kabinen, dem Drei-Klassen-Layout und seiner für die damalige Zeit überdimensionierten Größe schlecht geeignet. Nachdem 1975 der ohnehin klamme italienische Staat die Subventionen noch mal kräftig drosselte, wurden Michelangelo und Raffaello bereits nach zehn Jahren außer Dienst gestellt. Ihre letzte Transatlantik-Reise absolvierte die Michelangelo als Italiens Flaggschiff im Juni 1975 unter dem Kommando von Senior-Kapitän Claudio Cosulich. Beide Schiffe wurden erst in Genua, dann in La Spezia aufgelegt.

Foto: Sammlung JSA

Nachdem mehrere Kaufinteressenten – darunter auch Costa und Knut Kloster (Norwegian Cruise Line) wegen der hohen Modernisierungs- bzw. Umbau-Kosten von einem Kauf Abstand nahmen, lehnte die Reederei Società di Navigazione das einzig verbliebene ernsthafte Kaufangebot der Reederei Home Lines für die Michelangelo und die Raffaello ab. Diese wollte die Schiffe unter italienischer Flagge in der Karibik einsetzten. Schließlich griff der Schah von Persien im Februar 1977 zu, er wollte die Dampfer zu Wohnschiffen ausbauen lassen. Die beiden seinerzeit für je 45 Mio. Dollar erbauten und von ihm für jeweils zwei Mio. Dollar erworbenen Schiffe starteten zum letzten Mal von Genua in Richtung ihres neuen Standorts Bandar Abbas, ihr Problem war, dass sie zu schwimmenden Kasernen für je 1800 Soldaten umgewandelt wurden waren. Die Raffaello wurde 1983 von den Irakern in einem Luftangriff so hart getroffen, dass sie im flachen Wasser vor dem Hafen Bushehr kenterte. Die Michelangelo, für die man zunächst 1978 und dann erneut 1983 einen Umbau zu einem luxuriösen Kreuzfahrtschiff mit dem Namen Reza Shah the Great ins Auge gefasst hatte und diesen wegen des schlechten Zustandes verwerfen musste, hatte noch eine Lebenszeit bis 1991 als Soldatenunterkunft unter iranischer Flagge.

Im Juni gleichen Jahres wurde die Michelangelo ausgemustert. Ein pakistanisches Abwrackunternehmen erwarb sie zum Abbruch bei der Gadani-Werft in der Nähe von Karachi. Dorthin wurde sie verschleppt und verschrottet.

Roland Mischke, maritimes Lektorat: Jens Meyer