Die »Abyssinia« war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Passagierschiff auf der Nordatlantikstrecke. Ihr Ende war unglücklich.
Abessinien hieß früher das Land, dass wir heute als Äthiopien bezeichnen. Einst war es ein geheimnisvolles, scheinbar großartiges Reich, das Könige und Kaiser hervorbrachte. Schon in der jüdischen Religion galt es als ein märchenhaftes Land, im Alten Testament finden sich Geschichten von der mythischen Königin von Saba, die den israelischen König in Jerusalem besucht haben soll. Das gefiel den Bossen der britischen Reederei Cunard Line, weshalb sie ihrem 1870 in den Dienst gestellten Ozeandampfer nach dem mythologischen Land in der Nordhälfte Afrikas benannten.
Die Abyssinia wurde im Nordatlantikservice eingesetzt, wöchentlich fuhr sie von Liverpool über Queenstown nach New York und zurück. Sie wurde zum Expressdampfer auserkoren, weil sie in jener Zeit mit der modernsten vorhandenen Technik gebaut wurde, es war ein so genanntes eisernes Schiff. Cunard Line hatte beschlossen, fünf solcher Expressdampfer auf die Route zu bringen und damit der Konkurrenz standzuhalten und gutes Geld zu verdienen.
Die Abyssinia wurde im schottischen Clydebank auf der Werft J.& G. Thomson unter der Baunummer 110 errichtet und lief am 3. März 1870 vom Stapel. Gleichzeitig entstand ein Schwesterschiff, die Algeria. Es war Platz genug auf der Thomson-Werft, um beide Schiffe synchron zu bauen. Die Neuigkeit war, dass Cunard die erste Reederei war, die nicht nur auf den – seinerzeit nicht besonders großen Schiffen im Vergleich mit Heute – nicht nur Kabinen für Passagiere installieren ließ, sondern auch Aufenthaltsdecks einschob, so dass die Fahrgäste mehr Platz hatten und sich besser auf dem Dampfer bewegen konnten. Das war ein Qualitätsplus, das die Menschen zu schätzen wussten.
Das Passagierschiff unter der Flagge des Vereinigten Königreichs hatte Liverpool als Heimathafen. Die Abyssinia war 110,78 Meter lang und 12,86 Meter breit. Die Vermessung wurde mit 3376 BRT angegeben, im Maschinenraum des Dampfers befanden sich mehrere Verbund-Dampfmaschinen, die auf einen Propeller wirkten. Die Höchstgeschwindigkeit lag bei 13 Knoten (24 km/h). An Bord zugelassen waren maximal 1250 Passagiere, 200 in der Ersten Klasse und 1050 in der Dritten Klasse, heute Touristenklasse genannt. Die Anzahl der Besatzungsmitglieder ist nicht überliefert. Auf die Jungfernfahrt ging das Schiff am 24. Mai 1870.
Die Abyssinia war nicht lange der technisch fortschrittlichste Dampfer auf dem Atlantik. Bereits ein knappes Jahr später, im März 1871, stellte die White Star Line als Konkurrent die Oceanic in Dienst, sie konnte den Expressdampfer überbieten. Während Abyssinia und Algeria an jedem Tag 90 Tonnen Kohle verbrauchten, um die Geschwindigkeit zu gewährleisten, verbrauchte die Oceanic täglich nur 58 Tonnen des Brennmaterials. Der Kampf der Giganten der Reedereien war hart, beide nutzten ihre Vorteile.
Die Konsequenz war, dass die Cunard Line nachziehen musste. Der Bau zwei neuer Schiffe von Cunard (Servia und Catalonia, beide konnten 1871 in Dienst genommen werden), verdrängte die Abyssinia. Deshalb war sie schon am 18. September 1880 bei der Bauwerft in Schottland in Zahlung gegeben worden, man brauchte Geld, um die neuen Schiffe bezahlen und zügig zum Einsatz bringen zu können.
Zudem war die Abyssinia im November 1880 an die Guion Line verchartert worden. Diese Reederei hoffte, damit ihren Verlust durch die Montana ersetzen zu können, die bei Anglesey gestrandet war. Die Abyssinia ging auf ihre herkömmliche Route. 1882 erhielt das Schiff neue Verbundmaschinen. 1884 stand allerdings erneut eine Zahlung an, und zwar bei der Bauwerft Elder & Company für den Bau der Oregon, die mit der Guion Line finanziell verbunden war.
Die Guion Line stürzte aber in katastrophale finanzielle Krisen, sie konnte nicht mehr für die Baukosten der Oregon aufkommen und gab sie weiter an die Cunard Line. Als Ausgleich für die Oregon behielt Guion die Abyssinia, die aber jetzt schon als alte Lady galt. Die Deals zwischen den Unternehmen verstrickten sich noch mehr: Cunards Schiffe Parthia und Batavia wurden als Gegenleistung für die optimale Oregon bei John Elder & Company in Zahlung gegeben. Als 1885 der Gründer der Reederei, Stephen G. Guion, überraschend starb, wurde ein neuer Vorsitzender des Unternehmens berufen, Sir William Pearce. Das lief jedoch nicht gut, so dass am 27. März 1886 die Abyssinia wiederum abgegeben werden musste.
Pearce war in Not und vercharterte die Abyssinia und außerdem die Parthia und die Batavia an den kanadischen Unternehmer William Cornelius Van Horne. Der war ein erfolgreicher Eisenbahnpionier, seine Firma Canadian Pacific Railway (CPR) war exzellent in Schienengeschäft und Gütertransport. Van Horne schwebte vor, einen Dampfschiffservice einzuführen, um Materialien und Mitarbeiter schneller an interessante Orte zur Arbeit zu bringen. Die Idee war, den Gütertransport der CPR aus Großbritannien per Schiff über den Atlantik nach Kanada zu transportieren. Durch Kanada hindurch sollten Menschen und Material auf dem Schienenweg ans pazifische Ufer gebracht werden, um dort auf das Schiff nach Japan, China und Indien geladen zu werden.
Die Abyssinia wurde entsprechend umgebaut, beim neu ernannten Pazifikservice sollten weniger Personen befördert werden zugunsten von mehr Ladung. 22 Passagiere in der Ersten und 80 in der Dritten Klasse sollten den Warentransport begleiten. Schon bei der ersten Fahrt, brachte es die Abyssinia – nun im Dienst der Canadian Pacific Railway – zum besten Transpazifikrekord: die Fahrt von Vancouver nach Yokohama verlief so schnell wie nie zuvor, nämlich in 13 Tagen. Am 13. Juni 1887 hatte sie den japanischen Hafen erreicht. Die Schiffsladung auf der Rückfahrt bestand aus Tee und Seide, kam dann in den Zug nach Montreal und New York und wurde von dort nach London mit einem anderen Schiff weitertransportiert, wo sie am 29. Juni eintraf. Weitere Schiffe für diesen Dienst waren seit 1891 die Empress of Japan, die Empress of China sowie die Empress of India. Um das Ganze noch zu beschleunigen, wurden noch drei weitere Schiffe in Auftrag gegeben.
1891 wurde die Abyssinia zurückgegeben an die Guion Line, ab November des Jahres wurde sie wieder auf der ursprünglichen Route auf dem Nordatlantik eingesetzt.
Für die Rückgabe an Guion sollte sie am 13. Dezember 1891 starten, sie hatte 57 Passagiere und 88 Besatzungsmitglieder in New York aufgenommen. Am 18. Dezember fuhr die Abyssinia an der Küste von Nova Scotia entlang, rund 1300 Seemeilen entfernt von New York. Plötzlich, um 12.40 Uhr, brach in einem der Frachträume ein Feuer aus, die Mannschaft versuchte es sofort zu löschen, dennoch geriet das Feuer außer Kontrolle und riesige Rauchwolken breiteten sich über der Abyssinia aus. Das lag auch daran, dass massenhaft Baumwolle im Frachtbereich lichterloh brannten.
Kapitän G. S. Murray befahl allen Menschen an Bord, das Schiff zu verlassen. Das deutsche Schiff Spree vom Norddeutschen Lloyd kam zu Hilfe, dort hatte man die Rauchschwaden gesichtet. Alle Passagiere und Mitglieder der Crew konnten bis 16.15 Uhr auf die Spree wechseln. Sehr hilfreich in der Aktion war der Zweite Offizier der Spree-Crew, Charles August Polack, für seinen Einsatz wurde er später mit einer Medaille der Liverpool Shipwreck & Humane Society geehrt.
Alle Menschen von der Abyssinia wurden gerettet, sie kamen am 21. Dezember 1891 als Überlebende in Southampton an. Das Schiff war aber nicht mehr zu retten, es brannte weiter, bis es im Meer versank.
Roland Mischke, maritimes Lektorat: Jürgen Saupe