Das Wattenmeer an der Nordseeküste ist weltweit einmalig. Roland Mischke hat ein überaus interessantes Buch darüber studiert.
Bei einem Tier, das Kotpillenwurm genannt wird und kein Gesicht hat, liegt das Lachen näher als das Staunen. Es handelt sich um einen Wattwurm, das kleine, dünne Häufchen hinterlässt. Die schmalen, fadenartigen Körper der Kotpillenwürmer dehnen sich bis auf zehn Zentimeter Länge. Vögel, Fische und Krebse schätzen die kurzlebigen Borstenwürmer, die sich ausschließlich von organischen Bestandteilen des Schlicks ernähren.
Zudem hat sich der wirbellose Wurm dem Wattboden perfekt angepasst. Seine wichtigste Funktion ist die Sauerstoffaufbereitung. Er besitzt Hämoglobin, das besonders stark Sauerstoff bindet. Das braucht das Meer, dem es an Sauerstoff mangelt, zugleich oxidiert der Kotpillenwurm giftigen Schwefelwasserstoff. Durch regelmäßige Körperbewegungen erzeugt er einen Wasserstrom und bringt Nährstoffe in die Sandpartikel. Alle 30 Minuten kriecht der Wurm an die Oberfläche und gibt „verdauten“ Sand in Form einer Schnur ab. Ein millionenfaches Wunderwerk, das komisch aussieht, aber absolut hilfreich ist für das Meer und seine Umgebung.
Ein Wunderwerk ist auch das ganze Wattenmeer an der Nordseeküste von Skallingen in Dänemark über Deutschlands Ufer und bis nach Helder in den Niederlanden. Das wird sachkundig von Fotograf Martin Stock und Autor Tim Schröder dargestellt. Ihr Buch „Wunderwelt Wattenmeer“ ist hervorragend geeignet, das Unesco-Weltnaturerbe zu entdecken. In den 1960er Jahren war es gerade noch gerettet worden. Damals gab es Überlegungen, ins Watt Atomreaktoren zu platzieren. Naturschützer haben sich dagegengestellt und die Anlagen verhindert. Heute ist das ganze Watt ein Schutzgebiet.
Eine Landschaft aus Eiszeiten
Das Wattenmeer sei „eine einzige Bühne, auf der die Natur wahre Dramen inszeniert“, schreibt Tim Schröder. Das Meer rückt näher und zieht sich zurück, immer im Gleichmaß der Gezeiten. Der durch Niedrigwasser freiliegende Grund der Nordsee wird als Watt bezeichnet. Das Wattenmeer ist das größte seiner Art auf der Erde. Auf einer Fläche von 9000 Quadratkilometern, 450 Kilometer lang, 40 Kilometer breit. Zwischen Hochwasser und Niedrigwasser liegt der zeitliche Abstand von durchschnittlich sechs Stunden und 20 Minuten. Das Wattenmeer bildete sich vor etwa 7500 Jahren, es ist eine geologisch junge Landschaft, die ihr Entstehen den Eiszeiten verdankt. Es hat die höchste „Primärproduktionsrate“ der Welt und ist für 60 Arten von Vögeln und 50 Arten an Fischen Rastplatz und bevorzugte Nahrungsquelle. Sie finden dort neben Krebstieren und Würmern auch Algen und Plankton.
In der dynamischen Landschaft des Wattenmeers betreibt der Mensch Fischfang, vor allem als Stellnetzfischerei. Neben Scholle, Seezungen und Flundern gibt es im Watt Nordseegarnelen und Miesmuscheln. Der Fang ist streng kontingentiert. Die Lebewesen, vor allem Muschelbänke, sind fester Bestandteil des Ökosystems.
Die Sinne werden angesprochen
Das Wattenmeer ist eine ruhige Landschaft, nur dem Rauschen des Meeres ausgesetzt. Der beständige Westwind bestimmt die besondere Stimmung. „Er formt die Wolken, die im Licht der untergehenden Sonne rot aufleuchten wie abstrakte Kunstwerke“, formuliert es Tim Schröder. Wer die Schönheit dieses Meeresteils empfinden will, muss sich Zeit nehmen zum Beobachten. Wie das Wasser tonnenweise zurückkehrt und es ein mächtiges Wogen gibt. Ist die Brandung stark, etwa bei einem Orkan, kann sie eine Dünenkette durchbrechen. Die Sturmflut wuchtet das tobende Nordseewasser, das Wattenmeer versinkt in Fluten. Und taucht daraus am nächsten Morgen in strahlendem Glanz hervor.
„Viele Wanderer, die sich bei diesem Wetter hinauswagen, machen sich einen Spaß daraus, sich mit dem ganzen Körper gegen den Sturm zu lehnen. Laut knatternd flattern die Ärmel der Regenjacken im Wund. Gischt peitscht das Gesicht. Die Luft schmeckt salzig“, so der Autor. Alle Sinne werden angesprochen, vor allem wenn die Sonne mit den Wolken und dem Regen konkurriert.
Im Frühjahr leuchten die Salzwiesen in frischem Grün, im Sommer blüht der Strandflieder violett. Der Geruch ist ein Gemisch aus Salz und Wiesen, frischen Algen und Schlick, darüber lagert sich das Kreischen der Brachvögel. Und wenn in der Abenddämmerung der Mond aufgeht und die Sterne leuchten, wird es romantisch.
Ist es Zeit für die Zugvögel, fliegen sie in riesigen Schwärmen heran, nach Skandinavien oder in Richtung Mittelmeer. „Das Watt bietet ihnen eine schier unbegrenzte Menge an Nahrung, an Würmern, Muscheln und Kleinkrebsen“, so Schröder. Das Auf und Ab der Schwärme, ihr Hakenschlagen und die verdunkelten Wolken sind ein Urerlebnis. Das Wattenmeer ist die letzte Wildnis Mitteleuropas. Ein einzigartiger Lebensraum mit gewaltigen Kräften, die das Revier gestalten. Der Betrachter vom Ufer schaut auf eine Landschaft mit Sandbänken als horizontalen Linien, die sich als farbige Bänder in der Ferne verschieben im unaufhaltsamen Wechsel von Ebbe und Flut.
Das eigentliche Watt
Das Wattenmeer erscheint langweilig, wenn man es aus der Ferne betrachtet. Aber die verschiedenen Lebensräume – Inseln mit Dünen, Salzwiesen, Priele und tiefe Ströme – markieren die Seelandschaft. Wer genau hinschaut, entdeckt bald, dass die Sand- und Schlickflächen das eigentliche Watt bilden. Der Boden ist gespurt von Pflanzen und Tieren, ein ganzer Artenreichtum hat sich darauf abgebildet. Das Watt ist extrem produktiv.
Die Stoffe, die aus den großen Flüssen wie Elbe, Weser und Rhein in die Nordsee strömen, vor allem Phosphor und Stickstoff, werden als Dünger verwertet. So entstehen zum Beispiel Kieselalgen, ein Hauptnahrungsmittel vieler Vögel. Fische ernähren sich von Fischlarven und Kleinkrebsen. Fische wiederum gelangen in die Mäuler von Seehunden und Kegelrobben, die größten Raubtiere im Wattenmeer. Dort hat die Nahrungskette ihr ganz eigenes Ordnungssystem.
Wer bei Ebbe auf den Boden schaut, entdeckt zarte Gehäuse von Wattschnecken und Strandkrabben. Dazu mehrere winzige Organismen, die bei Fischen und Vögeln überaus begehrte Delikatessen sind. Manche Vögel haben sich im Laufe ihrer Entwicklung speziell dem Watt angepasst, etwa Säbelschnabler, die im Schlick ihre Beute finden. Silbermöwen mit ihren kräftigen Schnäbeln wiederum suchen Herzmuscheln, sie werden mit den Schalen gefressen und von ihren Magenmuskeln zermalmt.
Blüten im Meer
Algen und Tang klammern sich an Steine und Felsen, um nicht weggespült zu werden. Aber es gibt auch Pflanzen mit Wurzeln, die Blüten tragen – Seegräser. Sie gedeihen in flachem, lichtdurchflutetem Gewässer, mit langen dünnen Blättern und kleinen Blüten, an denen manchmal Schnecken kleben. Ringelgänse und andere Vögel finden dort ihr Futter. Mit seinen Kohledioxidspeichern wirken die unspektakulären Seegräser dem Klimawandel entgegen. Die Seegrasbestände und -flächen sind größer geworden, was ein Beleg dafür ist, dass die Nordsee in den letzten Jahrzehnten sauberer geworden ist.
Der Wattboden ist von Kolonien an blauschwarzen, dickschaligen Miesmuscheln besiedelt. Die Tiere haben sich an tief liegenden Stellen im Watt verwurzelt, so dass sie auch wilden Stürmen widerstehen können. Sie öffnen ihre Schalen nur, wenn die Flut abgezogen ist, zugleich lassen sie durch einen schmalen Kiemenspalt Frischwasser einfließen, das filtert und reinigt. Die Miesmuschelbänke sind die einzigen Bewohner des Wattenmeers, die einen festen Halt in der ständig bewegten Landschaft haben. Vielen Menschen gelten sie als beste Früchte des Meeres.
Das Wattenmeer ist der letzte große Freiheitsraum in Europa, die ungezähmte Natur kann sich hier noch entfalten, wie sie will. Durch den Schutzfaktor kann sie ihre Schätze als natürliche Ressourcen beheimaten, wovon auch der Mensch profitiert. Insofern ist das Wattenmeer ein Paradies. Besucher, die es schätzen gelernt haben, zieht es immer wieder dorthin. In eine Region, die sich tagtäglich verändert.